In den letzten 2-3 Stunden von Pokémon Karmesin dreht die Story plötzlich richtig auf. Auf einmal sind Themen wie Tod und Verlust kein Tabu mehr, eine kleine Gruppe von Hauptcharakteren zieht gemeinsam durch eine unheimliche, paradiesische Welt und als dann Ed Sheerans "Celestial" spielte, während unsere Helden nach einem spannenden Finale die Heimkehr antraten, war ich doch ein wenig gerührt.
Das Problem: Bis zu diesen 2-3 Stunden, war die Handlung von Pokémon Karmesin die mit schlechteste die ich je in einem Pokémon Hauptspiel erlebt habe.

Pokémon Karmesin (und damit auch mit leichten optischen Änderungen Pokémon Purpur), schickt den Spieler nach einer kurzen unspektakulären Einleitung auf gleich drei Missionen: Alle acht Arenen und die Pokéliga besiegen, 5 Gewürze für einen Mitschüler finden und fünf Anführer des "bösen" Team Star besiegen.

Diese Aufgaben können zum ersten Mal in einem Pokémon Spiel in beliebiger Reihenfolge erledigt werden... aber nur rein theoretisch. Tatsächlich scaled die Hauptwelt nämlich nicht mit euren aktuellen Pokémon mit. Das heißt ihr könnt zwar mit eurem Level 12 Starter Pokémon zwar bis hin zur Arena im eisigen Norden Paldeas laufen. Dort werdet ihr jedoch auf eine/n Arenaleiter/in mit Pokémon auf Level 47-48 treffen. Diese/n zu besiegen ist dadurch unmöglich. Bei meinem Playthrough bin ich z.B. öfters mal aus Neugier in eine zufällige Richtung gelaufen. Dies führte jedoch dazu, dass ich schnell von Level 40 Pokémon verfolgt wurde, die nichts besseres zu tun hatten als mich und mein Level 20 Team zu verkloppen. Die "freie" Spielwelt muss also praktisch in der von GameFreak vorgesehenen Reihenfolge abgeklappert werden. Ansonsten ist man das eine Mal heillos unterlevelt und das andere Mal völlig überlevelt, wenn man gegen Gegner kämpft, die man eigentlich schon längst hätte besiegen müssen. Dies führt zu sehr viel planlosem Herumgereise in Paldea, was einen wirklichen Spielfluß verhindert.

Dazu kommt, dass diese drei Handlungen selber extrem langweilig sind.

Die Arenen sind nicht mehr wie früher mit Gegnern gefüllte Räume in der man kleine Labyrinthrätsel im Thema der Arena lösen muss, um zum Leiter zu gelangen. Stattdessen hat sich GameFreak in jeder Stadt kleine Aufgaben ausgedacht, die der Spieler meist in Minispielform erledigen muss, bevor er kämpfen darf. Diese Minispiele sind ab und zu kreativ, meist jedoch unnötiger Filler. Die Arenaleiter selber sind vom Design mittelmäßig. Manche bleiben in Erinnerung, manche nicht. Einen "roten Faden" der Handlung gibt es, bis auf eure Rivalin Nemila die ab und zu vorbeischaut nicht. Auch die Pokéliga ist unspektakulär. Zwar sind die Top 4 insgesamt durchaus gelungene Charaktere, der Champ wirkt jedoch leer und uninspiriert. Weder erfährt man etwas über die Herkunft oder Motivation des Champs, noch darf dieser während der Handlung mehr machen als ab und zu vorbeischauen und den Fortschritt des Protagonisten belächeln. Insgesamt ist dieser Handlungsstrang also so angepasst und uninspiriert, wie schon in allen Hauptspielen zuvor.

Für die Gewürzsuche, den zweiten Handlungsstrang, muss in fünf Regionen jeweils ein bestimmtes Herrscherpokémon gesucht werden, welches eigentlich nur eine riesige Version eines regulären in dem Gebiet beheimateten Pokémon ist. Nachdem dieses einmal besiegt wird, muss es dann im Doppelkampf mit eurem anderen Rivalen Pepper ein weiteres Mal besiegt werden. Dieses Vorgehen ist bis auf winzige Abwandlungen fünfmal völlig identisch. Als einzige Motivation bleibt dem Spieler neben Upgrades für das Reitpokémon eine kleine Story mit besagtem Rivalen, die sich im Grunde aber auch jedes Mal größtenteils wiederholt. Die Motivation von Pepper mag zwar ganz süß sein. Die aktuell kursierende Ansicht, dass er einer der bisher besten Hauptcharakter in einem Pokémon Hauptspiel sein soll, teile ich jedoch keinesfalls. Wie schon 2010 in Pokémon Schwarz und Weiß mit "N", wird hier von den storyentwöhnten Pokémon Fans die bloße Existenz einer mittelmäßigen Hintergrundgeschichte mit tatsächlicher Charaktertiefe verwechselt. Auch dieser Handlungsstrang ist also im Grunde langweilig und gleichgültig.

Die letzte der drei Handlungen, die Zerstörung von Team Star setzt dem ganzen dann die Krone auf. Wisst ihr noch, als Team Magma und Team Aqua in Rubin/Saphir mehrere Naturkatastrophen und beinahe die Zerstörung der Hoenn Region verursachten? Oder als Team Plasma in Schwarz/Weiß versuchte die Weltherrschaft an sich zu reisen? Oder als Team Galaktik in Diamant/Perle fast das Universum zerstört hat? Nun, das neue Team Star in Karmesin und Purpur hat auch etwas sehr böses vor: Es möchte... die Schule schwänzen? Und dafür Mitglieder rekrutieren? Ohjemine!
Bevor man jeden der fünf Star Anführer herausfordern kann, müssen zunächst dreißig von Team Stars Pokémon besiegt werden. Nein, die Pokémon müssen nicht im Kampf besiegt werden. Stattdessen drückt man "R" auf seinem Controller und das eigene Pokémon kommt automatisch aus dem Ball und verdrischt die gegnerischen Pokémon in der Nähe von selbst. Für das Ganze hat man aber nur 10 Minuten Zeit. ...was vielleicht für Säuglinge, die den Controller nicht halten könnten anspruchsvoll wäre, würde das Besiegen eines Pokémon nicht nur durchschnittlich vier Sekunden dauern. Der Boss selbst hat dann 1-4 Pokémon eines bestimmten Typs und dann als finales Pokémon ein besonders Pokémon, das alle anderen Bosse auch haben - nur in einer anderen Farbe.
Die Motivation der Bosse lässt sich im Grunde mit den drei Worten "Mobbing ist schlecht" zusammenfassen. Einen vorhersehbaren Plottwist später und auch dieser Handlungsstrang endet unspektakulär.

An dieser Stelle zeigt sich die Schwäche von Game Freaks Idee, drei Handlungen völlig unzusammenhängend nebeneinander laufen zu lassen. Wenn Querschnitte zwischen den Handlungen tunlichst vermieden werden, hat man am Ende halt drei eigene Storys, die aber jeweils nur ein Drittel so umfangreich, wie eine richtige Story sind. Im Ergebnis muss der Spieler (auch aufgrund der linearen Levelkurve) abwechselnd die Häppchen von drei langweiligen Minigeschichten abfrühstücken, wird dadurch jedes Mal wieder aus der sowieso uninteressanten Handlung herausgerissen und erreicht am Ende dieser "Storyschläuche" schließlich stets ein uninspiriertes Zwischenende.

Diese fürchterliche Story kann dann auch die eingangs erwähnte, wirklich gute Endhandlung nicht mehr retten. Hätte GameFreak doch nur früher mit dem hier einsetzenden Stimmungsumschwung begonnen. Wenn man am Ende des Spiels sowieso eine etwas ernstere Handlung auf die Spielerschaft loslassen möchte, braucht es doch für die vorherigen 90% der Handlung die Paw Patrol würdige Kindergartenhandlung nicht. So bringt sich GameFreak selbst um eine spannende Handlung, die vielleicht erstmals die Tradition der meist vergessenswerten Hauptspielhandlungen hätte brechen können. Denn Potential war hier definitiv da.

Achja, nach der Hauptstory hat die Welt dann natürlich auch nicht mehr viel zu bieten. Aber daran, dass die Zeiten der vierten Generation, wo es nach der Handlung noch richtig viel Aftergame Content gab, vorbei sind, haben wir uns ja schon alle gewöhnt.

Auch abseits der Handlung ist Pokémon Karmesin mittel bis schlecht.
Das Kampfsystem ist wieder genau da wo Schwert und Schild aufgehört haben. Änderungen aus Pokemon Legends: Arceus, wie das veränderte Initiative System, das ich gerne dauerhaft behalten hätte, sind wieder weg.

Die Welt wirkt groß und leer. Das eben erwähnte Pokemon Legends versuchte noch, jeder Pokemon Art auf den Karten einen passenden, festen Platz zu geben. So fand man zb. Octillery nur an einer bestimmten Felsformation am Strand, ein Herrscher Lucario versteckt auf einer kargen Klippe mitten in den Bergen und ein Herrscher Parasek in einem kleinen Tal mit vielen Bäumen. Die Pokémon in Karmesin spawnen weitestgehend zufällig in den jeweiligen Arealen. Da steht dann plötzlich eine Gruppe von Makuhita zusammen mit einer Gruppe Sesokitz einfach in der Gegend herum, ohne dass irgendein Zusammenhang mit der Umgebung erkennbar wäre. Das Gefühl, dass die Pokémon tatsächlich in den jeweiligen Gebieten leben, kommt überhaupt nicht auf.

Dies wird dadurch verstärkt, dass die Pokémon meist einfach direkt neben dir spawnen. Denn der größte Kritikpunkt an Pokémon Karmesin ist zuletzt die grotesk schlechte technische Performance des Spiels. Im Docked Modus der Switch war das Spiel bei mir selten bei "flüssigen" 30 FPS. Meist sogar deutlich drunter. Besonders bei den paar Minispielen fallen die FPS teils auf um die 10 FPS. Reitet man schnell durch die Welt, kommt die Switch überhaupt nicht mit dem Laden der Pokémon hinterher. Diese spawnen meist erst, wenn man an dem jeweiligen Punkt schon vorbeigeritten ist... oder genau auf dir drauf, wodurch es zu nervigen Kämpfen mit wilden Pokémon kommt, die man eigentlich hätte vermeiden können.
Dabei ist die Grafik überhaupt nicht gut. Zwar gibt es bei der Vielzahl der Landschaftsmodelle diesmal mehr Auswahl als in Pokémon Legends, die Grafik bewegt sich jedoch trotzdem im oberen Playstation 2 Bereich. Insgesamt ist nur wenig Verbesserung zum Vorgänger zu sehen, in manchen Bereichen bleibt die Grafik demgegenüber sogar zurück. Texturen wirken z.B. verwaschen und die Städte karg geschmückt. Dass dies nicht bloß an der limitierten Hardware der Switch liegt, zeigt ein Vergleich zum ebenfalls in diesem Jahr erschienenen Xenoblade Chronicles 3, das eine deutlich schöner gestaltete Spielwelt bei durchgehend 30 FPS darstellt.
Zusätzlich gibt es einige Glitches in der Spielwelt. Ein paar Mal bin ich in der Welt stecken geblieben. Ab und zu "durfte" ich sogar einen Blick unter die Map werfen. Wohlige Erinnerungen an Sonic 06 werden dadurch geweckt.

Auch in den Kämpfen ist Pokémon Karmesin leistungstechnisch viel zu langsam. Befehle werden oft erst nach einem Delay von ein paar Sekunden ausgeführt. Das führt dazu, dass man viel mehr Zeit mit diesen Kämpfen verbringt, als man das eigentlich müsste. Dies führt wiederum dazu, dass ich die übrigens rein optionalen Trainerkämpfe oft ignoriert habe, was weiter zu dem oben erwähnten Levelproblem beigetragen hat.

Interessante Landmarks, die zum Erkunden anregen, gibt es auch fast gar keine. In den einzelnen "Biomen" sieht alles gleich aus. Damit versagt GameFreak aber von Grund auf an seiner Open World Idee. Wenn ich durch die Welt nicht zum Erkunden angeregt werde und durch viel zu starke Gegner an Orten an denen ich nach GameFreaks Vorstellung noch nicht sein sollte, sogar fürs Erkunden bestraft werde, wieso sollte ich dann überhaupt die Welt erkunden? Wieso lese ich nicht einfach nebenbei ein Walkthrough und reise ohne Umwege "in der richtigen Reihenfolge" von Ort zu Ort?

Schließlich ist auch der Soundtrack durchwachsen. Zwar sind einige Banger dabei, jedoch hat sich die Musik für mich wenig abwechslungsreich angehört. Beispielsweise spielt die Musik des ersten Areals gefühlt in einem Drittel aller Areale der Welt.

Damit ist Pokémon Karmesin insgesamt eine große Enttäuschung. Dabei ist nicht alles schlecht. Einige Charakter- und Pokémondesigns haben mir durchaus gefallen und die wilden, frei herumlaufende Pokémon machen mir als Fan wie schon in Pokémon Legends viel Spaß. Das Gimmick dieser Region, das "Terrakristallisieren" ist im Kampf deutlich weniger polarisierend als z.B. die Mega Entwicklungen der 6. Generation und wird vielleicht einige bisher sehr schwache Pokémon im competitive Play viable machen. Und um den Kreis zu schließen sei zuletzt auch nochmal das wirklich gute Ende der Handlung erwähnt, dass vermutlich das beste Ende eines Hauptspieles bisher ist.

Trotzdem ist das Spiel aufgrund seiner gravierenden Mängel meiner Meinung nach das bisher schlechteste Pokémon Hauptspiel seiner Zeit. Das heißt nicht, dass man mit diesem Spiel keinen Spaß haben kann. Mit ein paar Performance Patches ließe sich die Spielerfahrung auch sicher stark verbessern. In der Form in der ich Pokémon Karmesin jedoch spielen musste ist das Spiel für mich nur mit 2/5 Sternen zu bewerten.

Es bleibt dasselbe Gefühl das ich schon am Ende von Pokémon Legends hatte: Viel Potential, aber leider nix draus gemacht.

Reviewed on Nov 27, 2022


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